Das Gemälde ist von:
Jean-Léon Gérôme, Truth Coming Out of Her Well (1896)
„Vom Weib zur Frau – Eine Genealogie zwischen Bios und Nomos“
Zunächst die Deutungshoheit:
Der Begriff „Frau“ leitet sich vom althochdeutschen frouwa ab, was „Herrin“ oder „Dame“ bedeutet. Dieses Wort ist verwandt mit dem althochdeutschen frō, was „Herr“ bedeutet, und steht somit in direktem Bezug zu gesellschaftlichen Hierarchien und Titeln. Im Laufe der Zeit entwickelte sich „Frau“ zu einer allgemeinen Anrede für erwachsene weibliche Personen, insbesondere im rechtlichen und sozialen Kontext.
„Vom Weib zur Frau“
Was trennt das Weib von der Frau? In einem Zeitalter, das emanzipatorisch Sprache schärft, Identitäten öffnet und Zuschreibungen dekonstruiert, wirkt das Wort „Weib“ wie ein archaisches Echo – ungewohnt, roh, beinahe schamhaft. Doch vielleicht liegt in dieser sprachlichen Irritation ein philosophisches Potenzial verborgen: eine Einladung, den Ursprung des Weiblichen neu zu befragen.
„Weib“ – das klingt nach Körper, nach Erde, nach Ursprung. Ein Wort, das ungeschützt ist, nackt, dem Bios zugehörig: der Natur, der sinnlichen Lebensrealität. Es benennt kein Subjekt mit Pass, sondern ein lebendiges Wesen mit Schoß. Dagegen steht „Frau“ – ein zivilisatorischer Titel, ein normierter Platzhalter im Nomos, dem rechtlich-sozialen Raum. Sie ist eingebettet in Rollen, Rechte, Institutionen. Die Frau heiratet, unterschreibt, widerspricht im Parlament. Das Weib gebiert, blutet, liebt – namenlos, aber lebendig.
Inspiriert von Giorgio Agambens Unterscheidung zwischen Bios und Zoe, sowie Foucaults Begriff der Biopolitik, könnte das „Weib“ für jenes nackte, vormoderne Leben stehen, das in den Diskursen der Macht selten zu Wort kommt – außer wenn es diszipliniert, benannt, domestiziert wird. Der Begriff Frau ist das Ergebnis dieser Disziplinierung. Eine Maske, geschaffen durch Sprache und Gesetz, die das rohe Leben des Weiblichen einhegt.
Judith Butler zeigt uns, wie „Geschlecht“ nicht etwas Gegebenes ist, sondern ein performativer Akt – ein tägliches Werden im Spiegel der Anderen. Und doch: Wer entscheidet, ob ich Frau bin? Und was, wenn ich mich erinnere, Weibgewesen zu sein – jenseits aller Performanz? De Beauvoir schrieb: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Doch was war ich davor?
Diese philosophische Spur legt nahe, dass die heutige Scheu vor dem Begriff Weib kein Zufall ist. Sie zeigt ein Unbehagen gegenüber dem Unverfügbaren, dem Wilden, dem Unkontrollierten. Die Rückbesinnung auf das Weib wäre kein Rückschritt, sondern ein radikaler Schritt nach innen – hin zum Körper, zur Erde, zum Ursprung. Und vielleicht auch ein Akt der Selbstermächtigung: sich dem Nomos nicht zu verweigern, aber sich auch nicht auf ihn zu reduzieren.
Das Gemälde und seine Geschichte:
“Truth Coming Out of Her Well”
Jean-Léon Gérôme, Truth Coming Out of Her Well (1896)
Eine Volkserzählung berichtet, dass sich Wahrheit und Lüge einst begegneten.
„Hallo“, sagte die Lüge.
„Hallo“, antwortete die Wahrheit.
„Es ist ein herrlicher Tag heute“, fuhr die Lüge fort. Die Wahrheit schaute sich um, und tatsächlich war es so.
„Es ist ein herrlicher Tag heute,“ stimmte die Wahrheit zu.
Sie gingen eine Weile zusammen, bis sie an einen großen Brunnen mit klarem Wasser kamen. Die Lüge tauchte ihre Hand ins Wasser und wandte sich an die Wahrheit: „Das Wasser ist angenehm – lass uns zusammen schwimmen gehen?“
Die Wahrheit, zunächst misstrauisch, prüfte das Wasser selbst und fand es tatsächlich angenehm. Beide legten ihre Kleider ab und stiegen hinein, um zu baden. Plötzlich sprang die Lüge aus dem Brunnen, zog die Kleider der Wahrheit an und rannte davon.
Die wütende Wahrheit stieg nackt aus dem Brunnen und suchte verzweifelt nach der Lüge, um ihre Kleider zurückzuholen. Doch die Welt, die die nackte Wahrheit sah, blickte mit Verachtung und Zorn zurück. Die arme Wahrheit kehrte zum Brunnen zurück, verbarg sich vor den Blicken der Menschen und versteckte ihre Scham für immer.
Seit jenem Tag reist die Lüge, als Wahrheit verkleidet, durch die Welt und befriedigt die Bedürfnisse der Gesellschaft, denn die Welt will die nackte Wahrheit keinesfalls sehen.
In manchen Versionen findet diese schöne und grausame Legende eine Fortsetzung:
Eines Tages traf die Wahrheit auf die Parabel. Sie klagte ihr Leid, und die Parabel riet ihr:
„Warum kleidest du dich nicht in Worte statt in Kleider? Gehüllt in eine faszinierende Geschichte, kannst du dreimal so weit reisen, und alle werden dich willkommen heißen.“
Die Wahrheit stimmte dem Vorschlag der Parabel zu, und bis heute sieht man die beiden oft gemeinsam unterwegs.