Defragmentierung
1995 kaufte ich mir meinen ersten Computer. Vielleicht erinnerst du dich daran, wie es für dich war? Ich kaufte mir einen PC und keinen Macintosh, denn den konnte ich mir nicht leisten. Ich hatte zu der Zeit keine Ahnung davon, wie ein Betriebssystem funktioniert oder aufgebaut ist. Auch kannte ich den Unterschied zwischen Linux-/Unix-Betriebssystemen und einem Windows, das auf dem DOS-System aufgesetzt werden musste, nicht. Später erst wurde mir bewusst, welche Auswirkungen es hat, wenn man den Datenträger des Windows-Systems nicht pflegt. Denn mit der Zeit und der Vielzahl generierter Daten wurde das System auffallend langsamer. Es brauchte gefühlte Ewigkeiten, um ein simples Programm zu öffnen. Nur das gelegentliche Stocken, das Zögern zwischen einem Klick und der Reaktion.
Das System funktionierte zwar – irgendwie. Aber dennoch verlor es mit jeder neuen Speicherung ein Stück Kohärenz. Ich hatte schon befürchtet, dass mein PC defekt sei. Doch dann fand ich den alles entscheidenden Hinweis.
kohärenz & defragmentierung
Die Dateien lagen verstreut, wurden zu winzigen Fragmenten von Informationen, die sich über die Dauer der Nutzung festplattenweit metastasiert hatten. Was einst ein klarer, fließender Akt des Abrufens gespeicherter Datensätze war, verkam zu einer qualvollen Schnitzeljagd. Die Nadel flippte förmlich aus ihrem Takt, wieder und wieder beim Versuch, die Datenfragmente aufzusammeln und wieder zusammenzuführen. Die Daten, die sich zu einem Flickenteppich aus Informationsbruchstücken entwickelt hatten – quasi zusammengehörig, aber getrennt –, ließen sich oftmals nur widerwillig auftreiben.
Mit dem Hinweis auf die faktische Fragmentation musste es doch eine Lösung geben, dachte ich mir, und siehe da: Jemand kam auf die Idee der systemischen Defragmentierung – ein Prozess, der das Abgespaltene, Zersplitterte wieder zusammenführt. Keine Löschung, keine Strafe, kein Urteil. Nur das stille, geduldige Ordnen dessen, was längst schon da war – aber abgespalten.
Heute ist mir bewusst, wie sehr sich unsere zivilisierte Welt, ihre Gesellschaften, Familien, Freundschaften usw. dem gleicht – der Fragmentation. Wir leben in Systemen, die nach Funktion ausgerichtet sind und funktionieren – irgendwie. Wir fragmentieren nicht allein unsere Erfahrungen, vielmehr sogar den Prozess an sich, der zur Erfahrung führt. Wir fragmentieren als Menschen, verkommen zu einer Idee, und selbst die – die Ideen – werden fragmentiert. Unsere Emotionen werden kartografiert, gespalten und deutungsschwanger abgelegt. Wesensnatürliche Verhaltensweisen werden verkannt, als fremdartig bewertet und sortiert in Kategorien: „normal“, „auffällig“, „krank“, „stabil“. Wir teilen uns selbst in verdauliche Teilchen auf, die uns dann selbst zu Fremden unseres Selbst werden lassen, nur um in einem System zu bleiben, das vorgibt, uns zu verstehen.
Doch irgendwann – und das ist der natürliche Lauf – kommt alles ins Stocken. Die Empathie hängt, Beziehungen und Kommunikation blockieren. Der Fluss, die Echtheit im Lebendigen versiegt, und an der Oberfläche bleibt das einzige Fragment zu erkennen, das dem Theater vorzugaukeln weiß, dass es lebendig sei.
Das ist der jeweilige Punkt, an dem wir die Atrophie unseres Gehirns, die Mechanisierung durch Denken, Messen, Konkurrieren und Vergleichen – Gut versus Böse – vorantreiben und samt Herz hinein ins Stübchen der Pathologie begleiten. Unisono beleben wir fortan eine Welt, in der wir zur Wahrung des eigenen Status quo, dem unermüdlichen Drang nach einem absonderlichen Sicherheitsgefühl, zum Werkzeug des Pathologisierens greifen – wieder und wieder.
Ignoranz herrscht vor: Wir nennen das, was wir nicht verstehen, „Störung“. Wir geben zwischenmenschlichen Ereignissen, die uns überfordern, einen klinischen Namen. Wir verdammen innere Kommunikation, wesenstreue Botschaften – den Schmerz – zur Anomalie. Pathologisieren ist unsere Art zu defragmentieren – das ist Gewalt.
Statt mit der eigenen inneren Abspaltung zu sein, ein wenig zu verweilen, sie in einem selbst kennenzulernen und dann sanft zu einem selbst wieder zusammenzuführen, verschieben wir sie direkt in Quarantänebereiche: Institutionen, Diagnosen, Schubladen und Glaubenssätze. Wir meinen, Ordnung zu schaffen, doch vertiefen wir dadurch nur den Schmerz, der uns auf die Trennung hinweist. Wir bezeichnen die Fragmente unseres Selbst als defekt, statt das System zu hinterfragen, das dazu beiträgt.
Es ist eine paradoxe Bewegung: Man möchte meinen, dass wir aus Angst vor Chaos das Lebendige in uns pathologisieren, doch das ist nicht die Wahrheit. Es ist die erlernte Unkenntnis, das erzogene Misstrauen und die daraus keimende Existenzangst, die uns Angst vor uns selbst fühlen lässt. Dem Selbst, das in Carl Gustav Jungs Pleroma weilt, dem absoluten, angreifbaren Nichts unseres vollen, undefinierten Potenzials. Das ist der Ort, an dem wir ganz wären, würden wir dort verweilen und uns bilden. Aber nein, wir ziehen um nach Golgatha und etablieren eine Welt, in der die Sehnsucht nach Kontrolle, Normen, messbarer Identifikation und insbesondere der Sehnsucht nach Sicherheit keimt. Die logische Schlussfolgerung muss immer sein: In Golgatha verlieren wir die Beziehung zum Ganzen – zur Seele.
Der Weg zurück: Was nur wäre, wenn wir statt zu klassifizieren, einfach zu lauschen begännen? Der Weg zurück verlangt die Kapazität, die Wahrheit wieder lieben zu lernen. Doch der Weg zurück muss an all den Schatten vorbeiführen, die wir ins Leben geführt haben, damit du sie zu den Deinigen machst – und das widerspricht der allgegenwärtigen Unkultur, eine Pille für jede Not schlucken zu wollen.
Eine sanfte Defragmentierung des sozialen Selbst gibt es nicht. Und sie beginnt schon gar nicht mit Etiketten, sondern mit Beziehung. Doch ehe du eine echte Beziehung eingehen kannst, brauchst du Werte. Deine Würde ist Ausdruck deiner Werte. Doch um die intrinsischen Werte zu leben, muss man sie in einem selbst entdecken, und dazu muss man leben, lebendig sein, agieren, sich strecken, beugen, dehnen und den einen oder anderen Bruch durchleben. Na, und jetzt vielleicht kannst du erahnen, weshalb auch du an einer so schrecklichen Selbstfragmentierung teilgenommen hast? Was hast du erlebt, dass du so geworden bist?
„Abweichung“ ist oft nur die Form, in der das Leben Normen ablehnt. Jedes „Symptom“ ist der Akt des lebendigen Daseins, sich selbst zu erhalten. Pathologisieren ist, gesellschaftlich betrachtet, kein neutraler Akt. Es ist ein Spiegel unserer Angst vor … such es dir selbst aus!
Wir haben gelernt, die Fragmente zu fürchten – wehe dem, der nicht so fragmentiert ist wie du! Doch in Wahrheit weist die Fragmentation auf unsere Ganzheit, unser Heil hin, denn nur in ihr erleben wir das Unheil.
Und so surrt das System weiter – leiser, beständiger, ruhiger, offener. Perfekt und lebendig – verbunden.

